Kämpfen und Retten

 

1945: Kriegsmarine und Handelsmarine retten über zwei Millionen Ostdeutsche über See. Die größte und erfolgreichste Rettungsaktion der Geschichte.

 

Noch im Januar 1943 hatte Hitler die Schweren Einheiten der Kriegsmarine wegen "Erfolglosigkeit' verschrotten wollen. Doch Großadmiral Dönitz verhinderte als neuer OB der Kriegsmarine diesen sinnlosen Befehl, zum Glück. Denn ab Ende 1944 unterstützten die vier Schweren Kreuzet:; zwei Linienschiffe und vier Leichten Kreuzer die im harten Abwehrkampf stehenden Heerestruppen längs der ostdeutschen Küste überaus erfolgreich gegen die vordringenden sowjetischen Armeen. Damit erkämpften sie für die übrigen Einheiten der Kriegsmarine und die restliche Handelsflotte die Voraussetzungen für die größte Rettungsaktion der Weltgeschichte: die Evakuierung von zwei Millionen Ostdeutschen über See.
Die Vorschrift hieß "Nußknacker'. Es war eine Schießvorschrift, ausgearbeitet vom Ersten Artillerie-Offizier (I. A. 0.) des Schweren Kreuzers "Prinz Eugen" , Korvettenkapitän Schmalenbach. Der Inhalt der Vorschrift war nicht gerade marinemäßig; es ging um das Schießen auf unsichtbare Ziele an Land. Das üben sie, die Artilleristen nahezu aller schweren Einheiten, die der Kriegsmarine 1944 noch verblieben waren: außer "Prinz Eugen" die Schweren Kreuzer "Admiral Hipper", "Admiral Scheer" und "Lützow" (Ex-Panzerschiff "Deutschland"), die Uralt-Linienschiffe "Schleswig-Holstein" und "Schlesien", die Leichten Kreuzer "Emden", "Köln", "Leipzig" und "Nürnberg".
Alle diese Schiffe sollten eigentlich schon Ende 1942 verschrottet werden, Hitler hielt sie für nutzlos - abgesehen von ihren gewaltigen Stahlmassen (für den Bau neuer Panzer). Die Verschrottung scheiterte jedoch am erbitterten Widerstand der Seekriegsleitung; statt dessen wurden die Schiffe in der Ostsee als "Ausbildungsverband" zusammengefaßt.
Jetzt, 1944, ist man froh, daß die Schiffe noch da sind. Denn sie haben, was an der verzweifelt kämpfenden Front überall fehlt: schwere und schwerste, weittragende Artillerie. Und es ist, wenn auch nicht offiziell zugegeben, ziemlich klar, daß sich entscheidende Kampfhandlungen sehr bald in Küstennähe, also im Feuerbereich der Schiffsartillerie, abspielen werden. Deshalb werden die großen Schiffe in den aktiven Dienst zurückgeholt, werden wieder Kriegsschiffe, üben Landzielschießen.
Marineartilleristen sind von Haus aus Präzisionsartilleristen: Sie müssen normalerweise von schnellfahrenden und zudem schaukelnden Schiffen auf gleichermaßen schnellbewegte und wackelnde Ziele schießen. Ihre neuen Ziele, bis zu dreißig Kilometer landeinwärts, sind meist unbeweglich, was die Sache einfach macht, aber nur selten zu sehen, was sich erschwerend auswirkt.
Korvettenkapitän Schmalenbachs Schießmethode für diese Situation ist ebenso simpel wie elegant: Alles, was benötigt wird, ist eine gute Karte des Zielgebietes und ein vom Schiff aus sichtbares Hilfsziel an Land (Kirche, Leuchtturm usw.). Hat man das, sind mühelos Richtung und Entfernung vom Schiff zum Ziel zu errechnen. Weil das laufend zu geschehen hat - denn die Schiffe müssen schon aus Sicherheitsgründen im Fahren feuern -, ist auch gleich ein Landziel-Rechengerät entwickelt worden. Mit diesen Hilfsmitteln schießen die Schweren Kreuzer bei einer Vorführung im Frühjahr 1944 derart präzise, daß die Beobachter der Heeresartillerie hell begeistert sind.
Der erste Einsatz der Großschiffe als schwimmende Artillerie kommt eher als erwartet: Ende Juli 1944, als die Heeresgruppe Mitte unter dem Ansturm der Roten Armee zusammenbricht, stößt im Nordabschnitt die 1. Baltische Front (entsprechend einer deutschen Heeresgruppe) unter dem erfahrenen General Jeremenko aus dem Raum östlich Welikije Luki bis zur Ostseeküste knapp westlich Riga vor: Damit ist die deutsche Heeresgruppe Nord von ihrer Landverbindung abgeschnitten, eingekesselt.
Aber eine Kesselseite ist das Meer, und da ist die Marine. Die versorgt die Heeresgruppe, aber eben nicht nur das! Als am 20. August die Gruppe Strachwitz der 3. Pz-Armee antritt, um dicht an der Küste vom Westen nach Riga durchzustoßen und die Verbindung zur Heeresgruppe Nord wiederherzustellen, steht "Prinz Eugen" in der Rigaer Bucht bereit. In einem Kämmerchen oberhalb des Artillerie-Leitstandes hocken zwei feldgraue Gestalten: Heeresfunker, die Verbindung zu Strachwitz' Panzerspitzen halten und alsbald die Anfrage übermitteln, ob "Prinz Eugen" die starken russischen Bereitstellungen in und bei Tukkum zusammenschießen könnte. Tukkum, ein kleines Städtchen in einem Tal 15 Kilometer landeinwärts, ist ein Verkehrsknoten und eine Schlüsselstellung - die deutschen Angreifer müssen da durch, und die Russen wissen es. Hingegen wissen sie nicht, woher plötzlich das massive Artilleriefeuer kommt, das sie mit verheerender Wucht eindeckt. Denn schon die ersten Salven - jeweils acht 20,3-cm-Brocken zugleich auf engstem Raum - liegen voll im Ziel. Verzweifelt, aber erfolglos schießen die Sowjets auf die Bordflugzeuge, die über dem Zielgebiet kreisen - als ob die kleinen Arados 196 so viele Bomben schleppen könnten.
Ungestört, allerdings bewacht von einem Schwarm Zerstörer und Torpedoboote, fährt "Prinz Eugen" vor der Küste auf und ab und jagt Salve auf Salve aus den Rohren, bis die deutschen Panzer den Stadtrand von Tukkum erreicht haben und um FeuereinsteIlung bitten. Als sich einige Zeit später der russische Widerstand versteift, wird nochmals eine Feuerwalze direkt vor die eigenen Panzerspitzen gelegt, sodann eine russische ArtilleriesteIlung auf einer beherrschenden Höhe zusammengeschossen. Da "Prinz Eugen" weder auf dem Wasser noch aus der Luft angegriffen wird, kann Vizeadmiral Thiele, Befehlshaber der "Kampfgruppe Thiele", zwei Zerstörer aus seiner Bedeckung entlassen - sie fahren dichter unter Land und unterstützen mit ihren 15-cm-Rohren (für infanteristische Verhältnisse auch noch ganz schön dicke Dinger) den Vorstoß der Einheiten, die sich von Riga aus den Strachwitz-Panzern entgegenkämpfen.
Gegen Abend bedankt sich die Gruppe Strachwitz bei Thieles Kampfgruppe für die ausgezeichnete Unterstützung; der überaus wichtige Durchbruch bei Tukkum ist gelungen, die Landverbindung zur Heeresgruppe Nord wiederhergestellt - zwar nur ein schmaler Schlauch, durch den aber in den folgenden Wochen 29 Divisionen und mehrere Brigaden mit allen schweren Waffen und Geräten und über 100.000 Fahrzeugen abrücken können, eine Masse von Menschen und Material, die schwerlich über See hätte abtransportiert werden können.
Das erste größere Evakuierungs-Unternehmen der Kriegsmarine beginnt weiter südlich ungefähr um die gleiche Zeit: Ein wuchtiger russischer Vorstoß bedroht Ende Juli auch Memel, den nördlichsten deutschen Ostseehafen. Der erste, der das mit aller Deutlichkeit erkennt, ist der Chef der in Memel stationierten 24. U-Boot-Flottille, Fregattenkapitän Merten. Er hatte, weil es keine klaren Nachrichten von der Frontlage gab, kurzerhand einige U-Boot-Offiziere mit Funktrupps zur Erkundung losgeschickt, deren Meldungen ihm sehr bald den Ernst der Lage klarmachten. Und Merten handelte. Er organisierte nicht nur die Verlegung seiner U-Boot-Schule, er setzt auch, unterstützt von Großadmiral Dönitz, gegen Gauleiter Koch die Evakuierung von Frauen, Kindern und Alten aus der Stadt und dem Umland durch. Rund 50.000 Memelländer werden auf Schiffen - von der Seetransportabteilung bereitgestellt - nach Pillau, Danzig und Gotenhafen in Sicherheit gebracht.
Gerade noch rechtzeitig: Am 5. Oktober stoßen russische Gardepanzerkorps südlich von Memel ans Kurische Haff vor, drohen die Stadt einzuschnüren und zu überrennen. Doch daraus wird vorerst nichts: Vor der Küste ist Vizeadmiral Thieles Kampfgruppe aufgefahren, diesmal auch mit dem Schweren Kreuzer "Lützow", dessen Hauptartillerie sechs 28-cm-Rohre sind, deren Geschossefürchterliche Wirkung haben. Die gewaltige Feuerglocke der Schiffsartillerie gibt den schwer kämpfenden Truppen Halt, die Front bleibt schließlich vor Memel stehen - ein auch für die Marine bedeutsamer Erfolg, denn für die Versorgung der in Kurland stehenden Armee werden die Hafenanlagen von Memel noch dringend gebraucht.
Kurz bevor die Kampfgruppe Thiele zum Landzielschießen vor Memel ausgelaufen war, hatte sie die Meldung bekommen, daß vor Memel das deutsche Schulschiff "Nordstern" (1.127 BRT) gesunken sei, "nach Unterwasserexplosion, wahrscheinlich Torpedotreffer". Das konnte nur eines bedeuten: Sowjetische U-Boote waren in die offene Ostsee vorgedrungen. Jahrelang hatten sie das nicht gekonnt, und ebensowenig hatten die Überwasser-Schiffe der an sich starken sowjetischen Ostseeflotte eine Möglichkeit gehabt, den in fast friedensmäßiger Ruhe über die Ostsee laufenden deutschen Transportverkehr zu stören. Das war so, weil die Kriegsmarine weit im Norden, im Finnischen Meerbusen, seit dem Spätsommer 1941 etwas betrieb, was man einen erbitterten Grabenkrieg zur See nennen könnte. Der Finnenbusen, jener nur 100 Kilometer breite Meeresarm zwischen Finnland und Estland, war nahe am östlichen Ende durch eine gewaltige Minensperre abgeriegelt worden. "Grabenkrieg zur See?" Nun ja, es war nicht damit getan, diese riesige Minensperre dorthin zu packen, sie mußte in der Tat verteidigt werden wie an Land die Gräben einer Hauptkampflinie. Unentwegt versuchten die Russen, die Sperre aufzubrechen, ebenso unentwegt mußte die Sperre abpatrouilliert werden, um sowjetische Minensucher und -räumer zu verjagen. Aber dafür waren die Russen in der Luft überlegen, genauer, die deutsche Luftwaffe war nicht in der Lage, den Schiffen hinter der Sperre den nötigen Luftschirm zu geben. Und so versuchen die Russen denn, die Wächter an der "Seeigel"-Stellung durch unablässige Angriffe von Bombern und gepanzerten Schlachtflugzeugen vom Typ IL 2 zu zermürben und zu verscheuchen. Der Kampf ist hart, dort an der Minensperre, er geht nicht ohne Verluste ab, die "Seeigel"-Stellung wird gehalten, wächst sogar, denn wenn es den Russen ab und an gelingt, den Minenriegel an der Ostseite anzuknabbern, dann wird eben auf der Westseite eine neue Lage Minen vor die Schwachstelle gepackt.
So geht es bis in den Sommer 1944. Zuletzt freilich ist die sowjetische Luftüberlegenheit so groß, daß die inzwischen durch Torpedoboote und sogar Zerstörer verstärkte Wächterflotte nur noch bei Nacht operieren kann, den Tageswachdienst übernehmen U-Boote. Dann aber, als im Zuge der sowjetischen Sommeroffensive die Südküste des Finnenbusens verlorengeht, wird die Lage kritisch.
Der Durchbruch, d. h. das Freiräumen einer Schneise, gelingt den Russen Anfang August auf halber Höhe zwischen Groß-Tütters und estischer Küste. Am Abend des 17. August läuft von der finnischen Seite die 6. Torpedoboot-Flottille aus, die vier großen Boote T30, T22, T23 und T32, alle bis zur Halskrause mit Minen vollgeladen, mit denen sie das Loch schließen sollen. Sie rauschen, warum, ist nie geklärt worden, in das eigene Minenfeld. T30, T32 und etwas später T22 sinken nach Minentreffern, nur T23 - Kommandant Kaleu Weinling - entkommt der Katastrophe.
Aber auch ohne diesen betrüblichen Donnerschlag hätte die "Seeigel"-Sperre kaum viel länger gehalten werden können, denn Anfang September muß Finnland den ungleichen Kampf gegen die Sowjetunion einstellen, und damit gehen der Marine auch die letzten Stützpunkte im Finnischen Meerbusen verloren - ohne Basis an Land aber kann keine Marine erfolgreich operieren. Der Finnenbusen muß aufgegeben werden, der Kampf verlager1 sich in die mittlere Ostsee: Nun muß jeder Transport nach und von Kurland einzeln gegen U-Boote, Schnellboote und Luftangriffe gesichert werden. Noch im Herbst 1944 überwiegen militärische Transporte, Waffen und Material hin, Verwundete zurück, wenn man von dem ersten, von der Marine initiierten Flüchtlingstransporten aus Memel absieht. Das ändert sich schlagartig, als am 12. Januar 1945, allen gegenteiligen Überzeugungen Hitlers zum Trotz, abermals eine gewaltige russische Offensive losbricht.
Den ganzen Herbst über wäre Zeit gewesen, die Bevölkerung Ostpreußens auf dem Landweg in die relative Sicherheit des Reichsinnern zu bringen. Doch die Parteioberen verhinderten das in verblendeter Verantwortungslosigkeit. Erst als die Russen kamen, begann die Flucht, begannen die Trecks hastig, desorganisiert und die kämpfende Truppe behindernd, westwärts zu ziehen, versuchten verzweifelte Reichsbahner, Zug um Zug voller verängstigter Menschen nach Westen durchzubringen. Doch nur ein kleiner Teil kommt durch, von den knapp zwei Millionen Zivilisten, die bei Beginn des Angriffs in Ostpreußen leben, allenfalls ein Achtel, etwas über 200.000. Dann, vom 23. Januar an, führt kein Weg mehr nach Westen, jedenfalls kein direkter. Denn an diesem bitterkalten Wintertag - Nachttemperatur unter 20 Grad - erreichen die Panzerspitzen von Rokossowskis Heeresgruppe (,,2. Weißrussische Front") Elbing, Ostpreußen ist fast, abgeschnitten. Nur noch ein Weg ist offen: der über die Frische Nehrung, zu erreichen über das zugefrorene Haff. Und so ziehen denn die Wagenkolonnen im schneidenden Schneesturm über das Eis. Aber sie kommen nicht bis auf die Nehrung, kurz davor stockt der Zug - eine Fahrrinne für Schiffe ist in das Eis gebrochen. Das hängt mit drei nagelneuen Torpedobooten zusammen, die auf der Schichau-Werft in Elbing gerade fertig geworden sind, als die Russen vor der Stadt stehen. Den Russen überlassen werden dürfen sie keinesfalls, und sprengen mag man die kampfkräftigen Schiffe auch nicht. Deshalb wird ein Eisbrecher losgeschickt, der eine 30 Meter breite Rinne durch das Haff-Eis bricht, bis nach Pillau, 65 Kilometer lang. Durch diese Rinne fahren am Abend des 25. Januar die drei T -Boote, jedes mit 1.000 Menschen an Bord - am Nachmittag hatten die Russen die Bahnlinie Elbing - Marienburg - Dirschau, über die bis dahin noch Flüchtlingstransporte liefen, westlich von Elbing unterbrochen. Die Züge, die nicht mehr durchkommen, werden nun zum Hafen umgeleitet, auch die Elbinger selbst strömen dorthin, jeglicher schwimmfähige Untersatz wird flottgemacht, vom Haffdampfer bis zum Sportboot.
Drei Tage lang währt der Schiffsverkehr in der Fahrrinne Elbing-Pillau; es fahren auch noch Schiffe nach Elbing, um den vor der Stadt kämpfenden Truppen Nachschub zu bringen. Für die über das Eis Flüchtenden ist der Schiffsverkehr ein bitteres Ärgernis: Immer wieder müssen die Notbrücken über die Fahrrinne eingezogen und sodann mühsam wieder ausgebracht werden. Am 28. Januar aber fällt Elbing, der Schiffsverkehr hört auf, die Notbrücken frieren fest, endlich können nun die Elendstrecks auf insgesamt sechs Eisstraßen einigermaßen zügig zur Nehrung kommen und dann an der Küste entlang südwärts hetzen, nach Danzig.
Inzwischen quillt die kleine Hafenstadt Pillau am Nordende der Nehrung vor Flüchtlingen aus den ostpreußischen Kerngebieten fast über. Aber im Hafen liegen vier große Schiffe: der KdF-Dampfer "Robert Ley" (27.288 BRT), die beiden Afrika-Liner "Pretoria" (16.662 BRT) und "Ubena" (9.523 BRT) und der Essberger Dampfer "Duala" (6.133 BRT), alles Wohnschiffe der U-Boot-Lehrdivisionen. Die Marine hat sie, obschon viel zu spät, vom Führerhauptquartier alarmiert, rechtzeitig freigegeben, seeklar machen lassen. Die Schiffahrtsabteilung der Seekriegsleitung, meistens kurz "Seetra" (Seetransporte) genannt, hat für Kohle gesorgt, die 9. Sicherungsdivision Geleitschiffe bereitgestellt. Und so können die vier Schiffe und noch zwei aus Königsberg, "General San Martin" (11.251 BRT) und "Der Deutsche" (11.453 BRT), schon am 25. Januar Pillau verlassen, mit zusammen rund 25.000 Menschen - Flüchtlingen und Verwundeten - an Bord.
Nicht nur mit großen Schiffen wird das Rettungswerk betrieben; die Marine kratzt im Januar und Februar 1945 alles zusammen, was auch nur einigermaßen seegängig ist. Handels- und Versorgungsschiffe aller Arten und Sorten werden notdürftig für den Transport von Menschen hergerichtet, man kann die ohnehin erschöpften Menschen ja nicht einfach in die eiskalten Laderäume von Frachtern hineinstellen. Kleine und kleinste Fahrzeuge, im Marinejargon "Dergis" genannt, die an die Bootsstege der Dörfer auf der Nehrung heranfahren können, klauben dort, in Neukrug und Kahlberg, Menschen auf, bringen sie nach Danzig, kehren um, holen weitere.
In Pillau, wo sich immer mehr Menschen stauen, wird die Ernährungslage kritisch. Da fällt der Marine-Intendantur ein, daß Memel, das noch verteidigt wird, aber dieser Tage aufgegeben werden soll, für viele Monate verproviantiert ist. Die Vorräte sollen bei der Räumung in die Luft gejagt werden - heller Wahnsinn angesichts der Zehntausenden von Ostpreußen, die in Pillau zusammenströmen und denen man ja auch für eine mehrtägige Seereise etwas mitgeben muß. So werden zwei der neuen großen Torpedoboote, T 33 und T 35, losgeschickt; eingedenk der Tatsache, daß deutsche Militärbürokratie auch in der schlimmsten Katastrophe pingelig zu bleiben pflegt, sind die Boote mit sämtlichen erdenklichen Anforderungspapieren samt vorgeschriebenen Unterschriften ausgestattet. Und das wirkt dann auch: Einen Tag später kehren sie zurück, über und über beladen mit Mehl- und Reissäcken, Fettkisten, Trockenfrüchten. Die Seetra hat inzwischen in die Einschiffungshäfen - Pillau, Danzig-Neufahrwasser, Gotenhafen - Einschiffungsoffiziere geschickt, um den sprunghaft anschwellenden Menschenumschlag zu organisieren. Einer davon ist der Oberleutnant z. S. Heinrich Schuldt, im Zivilberuf Handelsschiffskapitän.
Am 1. Februar triffl er in Neufahrwasser ein. Er berichtet: "Am Eingang zum Freihafen bot sich mir ein unbeschreibliches Bild. Der ganze, viele hundert Meter lange Südmiene-Marinekai lag voller Küstenfahr- und Transportfahrzeuge und Fährprähme. Überall stiegen Flüchtlinge an Land. Dazwischen humpelten Verwundete. Auf dem Kai stand, saß und lief alles durcheinander. Wie in einem großen mittelalterlichen Heerlager. Später haben wir festgestellt, daß es weit über 10.000 waren." Schuldts größte Sorge: Alle diese Menschen brauchen, bis sie - zunächst noch mit der Bahn - weitertransportiert werden können, ein Dach über dem Kopf. Gleich neben dem Kai sind riesige Lagerschuppen. Sie stehen so gut wie leer, nur in einigen liegt etwas Wehrmachtsgut herum. Deshalb sind sie verschlossen. Schuldt macht sich auf die Suche nach den Schlüsseln, findet aber nur einen Oberstleutnant, der sie ihm verweigert, weil die Flüchtlinge möglicherweise etwa dort lagernde Wehrmachtsverpflegung essen könnten. Woraufhin Heinrich Schuldt die Schlösser an den Schuppen höchst eigenhändig aufbricht und sich den Deibel um die Kriegsgerichtsdrohung des Wehrmachtsbürokraten schert. Binnen Tagen verwandelt Schuldt mit einer Handvoll Helfer die Schuppen in ein wohlorganisiertes Durchgangslager mit Küche, Lazarett usw., das zeitweilig bis zu 40.000 Menschen beherbergt.
Unterdes rückt überall die Front näher an das Meer heran, in den Bereich der Schiffsartillerie. Und überall, wo es nur möglich ist, fahren die Schweren und Leichten Kreuzer auf und helfen mit ihren "schweren Brocken" den Kameraden an Land. Wie diese, kämpfen sie längst nicht mehr für den Endsieg, auch nicht wegen der Durchhalteparolen der Propaganda, sondern nur noch aus einem Grund: um möglichst viele Landsleute zu retten, die sich in den enger werdenden Kesseln befinden.
Nach Danzig und Gotenhafen strömen nun auch aus westlicher und südlicher Richtung Flüchtlinge: Die sowjetische März-Offensive ist im weiten Bogen durch Pommern hindurchgestoßen, an vielen Stellen bis zur Küste, so daß sich auch dort Kessel bilden, die ans Meer angelehnt sind und evakuiert werden müssen, so bei Stolpmünde, Rügenwalde und vor allem Kolberg. Die Stadt, zur Festung erklärt, "die bis zum letzten Mann" zu halten ist, ist seit 6. März von allen Landverbindungen abgeschnitten - und vollgestopft mit Flüchtlingen. Rund 50000 sind noch vor der Einschließung abtransportiert worden, teils über See, teils auch noch über Land; nun, zu Beginn der Schlacht, sind immer noch über 80.000 in der Stadt, die von nicht mehr als knapp 4000 Soldaten - Reste zerschlagener Einheiten - unter Oberst Fullriede gehalten werden soll. Und sie halten Kolberg, obwohl sie nur sechs beschädigte Panzer und eine einzige 8,8-cm-Batterie als schwere Waffen haben, elf Tage lang dem Ansturm dreier Sowjet-Divisionen und mehrerer Panzerverbände stand, was allerdings nur möglich ist, weil die Zerstörer Z 34 unter Korvettenkapitän Hetz und Z 43 unter Fregattenkapitän Lampe abwechselnd vor der Stadt auf der Reede liegen und mit ihren je fünf 15-cm-Rohren fortwährend da Luft schaffen, wo es nötig ist.
Im Höllenlärm des Kampfes pendeln Fährprähme zwischen dem Hafen und kleinen Transportschiffen, auch die Zerstörer selbst nehmen, wenn sie zum Nachmunitionieren ablaufen, jeweils 1000 bis 1500 Menschen mit. So werden aus Kolberg bis zum 15. März noch über 70.000 Menschen herausgeholt; am Abend dieses Tages sind keine Frauen und Kinder mehr in der brennenden Stadt, wohl aber noch einige tausend nicht kampffähige Männer, d. h. alte und verwundete, und der Rest von Oberst Fullriedes verzweifelt kämpfender Truppe. Ihr aller Schicksal scheint besiegelt: Die Russen stoßen bis zur Stadtmitte durch und nehmen die Einschiffungspunkte unter Feuer. Es dauert eine Weile, bis es gelingt, die russischen Batterien auszumachen; dann werden sie von Z 34 in mehrstündigem Feuer niedergekämpft.
Sofort schickt der Einschiffungsoffizier, Fregattenkapitän Kolbe, die Fährprähme wieder los; auch der Zerstörer nimmt immer mehr Menschen auf. "An Bord kann sich kaum noch ein Mensch bewegen", notiert Kommandant Hetz im Bordbuch, "nur der Platz um die Geschütze ist frei." Über 2.000 Menschen mag er an Bord haben, aber der Zerstörer läuft nicht ab, er hat noch reichlich Munition, und die wird gebraucht.
Nicht nur das, Hetz funkt noch Z 43 und das große Torpedoboot T 33 herbei, denn sie wollen auch die Reste der Truppe, die durch ihren Verzweiflungskampf die Rettung der Zehntausenden ermöglicht hat, aus der Feuerhölle herausholen. Die drei Schiffe halten mit ihrem massiven Feuerschirm schließlich nur noch einen anderthalb Kilometer breiten und einen halben Kilometer tiefen Strandstreifen; schießen sich an den Rändern in direktem Gefecht mit russischen Panzern herum. Im frühen Morgengrauen des 17. März holen die Verkehrsboote der Zerstörer die letzten Kämpfer vom Strand, kaum einer unverletzt, als allerletzten den Oberst Fullriede. Pommern ist verloren, aber noch gibt es deutsche Brückenköpfe weit, weit östlich. Noch steht eine Armee in Kurland und hält den Hafen Libau, im Frischen Haff wird ein Kessel um Heiligenbeil gehalten und der Hafen Pillau, und noch - wenn auch der sowjetische Ring darum immer enger wird - ist auch das Gebiet Weichseldelta - Danzig - Gotenhafen - Heia in deutscher Hand. Doch der Druck des Feindes ist übermächtig, auch der pausenlose Einsatz der großen Schiffe kann nicht verhindern, daß alle diese Kessel und Brückenköpfe schrumpfen.
Aber ohnehin liegt die Last dieser letzten Tage mehr auf den kleineren und kleinsten Einheiten, die unermüdlich rackern, mit wahrhaftig allen Mitteln - selbst Pioniersturmboote sind mittlerweile massenweise im Einsatz, überall dort, wo weder Hafen noch Steg, sondern nur Strand und Steilküste ist.
Nach und Nach fällt alles: Zuerst Danzig - die Russen brechen am 23. März zwischen Danzig und Gotenhafen ans Meer durch, bei Zoppot - dort kommt es abermals zu einer Art Schlacht zwischen Schiff und Panzern. Z 34 fährt bis auf 1.000 Meter an den Strand heran und schießt mit dem vorderen 15-cm-Doppelturm Panzer auf Panzer ab, bis die Russen das Grausen kriegen, den Strand wieder freigeben, und noch einmal ein Weg von Danzig nach Gotenhafen offen ist. Aber nur für einen Tag.
In Danzig-Neufahrwasser kommt das Ende am 25. März; das letzte Schiff, das mit mindestens 4.000 Menschen an Bord ausläuft, ist die "Ubena". Dann sind die Schuppen, durch die in kürzester Zeit 500.000 Menschen geschleust worden sind, leer.
Gotenhafen fällt am 28. März. Nördlich davon, auf der Oxhöfer Kämpe, einem Höhengelände direkt an der Küste, kämpfen noch die Reste des VII. Panzerkorps, rund 30.000 Mann. Doch ihr Kampf ist sinnlos geworden, sie schützen niemanden mehr, und so gibt der Oberbefehlshaber der 2. Armee, General v. Saucken, trotz gegenteiliger Order aus dem Führerbunker, schließlich das Stichwort aus, auf das die Marine schon wartet: "Walpurgisnacht" - der sorgfältig vorbereitete Abtransport des VII. Panzerkorps beginnt im Schutze der Nacht vom 4. zum 5. April. Der Führer der 9. Sicherungsdivision, Fregattenkapitän v. Blanc, hat dazu alles aufgeboten, was er an Fährprähmen, Kriegsfischkuttern und sonstigen Kleinschiffen greifen kann, und es gelingt in einem Zeitraum von nur fünf Stunden, die 30.000 Männer und sogar noch einiges Gerät nach Heia hinüberzuholen.
Hela, die langgestreckte bewaldete Halbinsel vor der Danziger Bucht, 32 Kilometer lang, aber nur 1 bis 2 Kilometer breit und deshalb leicht zu verteidigen, wird von nun an zum Dreh- und Angelpunkt aller Rettungsaktionen.
Denn noch immer hält sich in Ostpreußen der Kessel von Heiligenbeil mit dem Hafen Pillau und Teilen der Frischen Nehrung. Von dort quert ein nicht abreißender Strom von Schiffen die Danziger Bucht; der Weg Pillau - Heia ist nicht weit, nur 38 Seemeilen (70 km), die Schiffe können mehrmals täglich hin- und herfahren. Auch von Libau kommen noch Schiffe, und so füllen sich die Kuschelwälder der Halbinsel mehr und mehr mit Menschen.
Der kleine Fischerei- und Kriegshafen an der Spitze der Halbinsel kann große Transportschiffe nicht aufnehmen, die Menschen müssen umgeladen werden, und das unter den immer heftiger werdenden Angriffen der Roten Luftwaffe. Pausenlos feuert die Schiffsflak, hält die Wirkung der Angriffe relativ gering. Was Marine und die Handelsschiffer - die großen Transporter fahren überwiegend mit ziviler
Besatzung - in diesen Tagen leisten, zeigt eine einzige Zahl: Im April werden von Heia über 350.000 Menschen abtransportiert, Tag für Tag über 10.000! Und auch als das Reich zusammenbricht, Hitler sich erschießt und Großadmiral Dönitz Staatschef wird, endet das Rettungswerk nicht.
Reichspräsident Dönitz sieht für sich und sein Amt nur zwei Aufgaben; 1. den Krieg so schnell wie möglich beenden und 2. die Rettung deutscher Menschen aus dem Osten so lange wie möglich fortführen. Es gelingt Dönitz, zunächst eine Teilkapitulation gegenüber den Engländern zu erreichen und die Gesamtkapitulation bis zum 9. Mai hinauszuzögern - neun Tage, in denen, so der Befehl, "in See befindliche Transporte der Kriegsmarine weiterlaufen".
Alles, was an Schiffsraum noch verfügbar ist, wird nun in die Ostsee geworfen, die letzten Treibstoffreserven werden freigegeben, mit dumpf röhrenden Turbinen laufen nun auch die großen Zerstörer der Narvik-Klasse wieder aus, die wegen ihres gewaltigen Öldursts zuletzt stillgelegen hatten.
Obwohl es von Tag zu Tag schwieriger wird, die Menschenfracht im Feuer der Russen aufzunehmen und auch sie im Westen abzuladen, holt die Marine in den letzten neun Tagen noch 27000 aus Libau, 65.000 von Heia, 66.000 aus Swinemünde und 44.000 aus den Häfen der mecklenburgischen Küste und von Rügen, zusammen noch einmal über 200.000! Dann kommt der bittere Augenblick, in dem, wegen der Bedingungen des Waffenstillstandes, das Rettungswerk eingestellt werden muß, ehe es vollendet ist: Die Soldaten, die bis zuletzt die Brückenköpfe verteidigt hatten, bleiben zurück, etwa 60000 auf Hela, 20.000 im Weichseldelta, 100000 in Ostpreußen, 200000 in Kurland.
Trotzdem haben Kriegs- und Handelsmarine in der Zeit von Mitte Januar bis 9. Mai 1945, in 115 Tagen, nach allervorsichtigsten Schätzungen mindestens zwei Millionen Menschen über See in Sicherheit gebracht, davon etwa 1,3 Millionen Flüchtlinge, 450.000 Verwundete und 250.000 Soldaten. Die Verluste, die dabei unvermeidlich waren, braucht man nicht zu schätzen, sie sind exakt registriert worden und waren, trotz dreier schlimmer Katastrophen ("Wilhelm Gustioff", "Goya", "General v. Steuben"), erstaunlich gering: weniger als 1 Prozent, nicht ganz 20.000 Menschen, kamen auf dem Weg nach Westen noch ums Leben.
Die Rückführung von mehr als zwei Millionen über See war, nach dem übereinstimmenden Urteil deutscher wie britischer und amerikanischer Historiker, die größte und erfolgreichste Rettungsaktion aller Zeiten.

Von Erich Winhold

mit freundl. Genehmigung der Reaktion der Zeitschrift Alte Kameraden